Analyse: "Ausländischer Agent" | bpb
Wie könnte man in Russland unter dem Druck des Gesetzes überlebenIn Russland arbeiten etliche "ausländische Agenten" - nicht etwa bei Geheimdiensten, sondern bei NGOs. 2012 erklärte die russische Regierung mit dem sogenannten "Agentengesetz" Mitarbeiter russischer NGOs und anderer Organisationen zu Agenten. Was bedeutet das Gesetz für die Arbeit und den Alltag der vermeintlichen "Agenten"?
Der Kreml in Moskau. Die russische Regierung hat seit dem "Agentengesetz" aus dem Jahr 2012 die Möglichkeit, die Arbeit von NGOs stärker zu kontrollieren. (&reproduction photo-alliance/dpa)
Historischer und aktueller KontextVor Beginn und während des Zweiten Weltkrieges wurde von der sowjetischen Propagandamaschine erwartet, dass sie zur Abwehr jedweder möglichen Art von "Schädigertum und Sabotage" eine Informationspolitik entwickelt und umsetzt, die der Bevölkerung die Gefahren einer Kommunikation mit "Unbekannten" deutlich macht. Wachsamkeit und Vorsicht erlangten höchste Aktualität und wurden zu einer neuen Dimension im Bewusstsein der Sowjetbürger. Eines der Agitationsplakate jener Zeit ist eine Arbeit von Nina Watolina und Nikolaj Denissow: Das Bild einer Frau, die den Finger vor die Lippen hält, wird mit Zeilen aus einem Gedicht Samuil Marschaks[1] versehen, und mit der Devise jener Zeit – "Ne boltaj!" ("Schwätz nicht!"). Es wurde eines der populärsten Poster – und auch jetzt noch ist das Bild auf praktisch jeder Art Souvenir in Russland zu finden. Dieses Plakat aus dem Jahr 1941 ist aber nicht nur durch seine künstlerische Qualität aktuell, sondern auch durch den Hass im gegenwärtigen Diskurs, und durch die im Plakat enthaltene Idee von der Suche nach dem Feind (dem äußeren und inneren), nach dem Spion, der die nationale Sicherheit bedroht, nach dem Saboteur, der die traditionellen Werte der Gesellschaft Russlands zu zerstören sucht und im Interesse seiner ausländischen Sponsoren vorgeht, durch eine Idee, die so lebendig ist wie nie. Im Laufe der letzten drei Jahre finden sich als "ausländische Agenten" eingestufte NGOs in einer Situation wieder, in der sie mit den Mitteln der Propagandamaschinerie als Feinde und "Schädiger" ("wrediteli") gebrandmarkt werden. Das "Agentengesetz"Eine Rohfassung des Gesetzes über "ausländische Agenten" wurde im Juni 2012 im Unterhaus des russischen Parlaments, der Staatsduma, vorgelegt. In Wirklichkeit ist das "Agentengesetz" kein eigenständiger Gesetzesakt, sondern stellt eine Reihe von Gesetzesänderungen dar. Diese wurden dann bereits im Juli 2012 von Präsident Putin unterzeichnet. [2]
Das unter anderem hierdurch geänderte Föderale Gesetz Nr. 7-FZ "Über nichtkommerzielle Organisationen" vom 12. Januar 1996 regelt die Tätigkeit von nichtkommerziellen Organisationen (NGOs), die auf dem Territorium der Russischen Föderation tätig sind. Eine nichtkommerzielle Organisation ist in Russland eine Organisation, zu deren satzungsgemäßen Zielen nicht die Erzeugung von Gewinn und dessen Verteilung an die Mitglieder gehören. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen kommerziellen und nichtkommerziellen Organisationen ist die fehlende Möglichkeit für letztere, unternehmerisch tätig zu sein. Oft arbeiten staatliche Strukturen in den gleichen Bereichen wie nichtkommerzielle Organisationen, doch können letztere nicht Teil des Staates sein und verfügen über erheblich weniger Ressourcen.
Die im Jahr 2012 verabschiedeten Änderungen dieses Gesetzes haben einen neuen Typus nichtkommerzieller Organisationen geschaffen, den es bislang im Rechtssystem Russlands nicht gegeben hatte. Das Gesetz postuliert nun zwei Merkmale, bei deren Vorhandensein sich eine Organisation als "ausländischer Agent" zu registrieren hat. Der Erhalt von Geldmitteln oder anderer Vermögenswerte von ausländischen Staaten oder deren Behörden, von internationalen oder ausländischen Organisationen, von ausländischen Staatsangehörigen, Staatenlosen oder deren Bevollmächtigten sowie die Beteiligung an politischer Tätigkeit auf dem Territorium der Russischen Föderation, unter anderem im Interesse ausländischer Geldgeber.
Darüber hinaus enthält das novellierte Gesetz eine Definition politischer Tätigkeit. Eine nichtkommerzielle Organisation gilt dann als an politischer Tätigkeit beteiligt, wenn sie sich – unabhängig von den in ihrer Satzung genannten Zielen – an der Organisation oder Durchführung politischer Aktionen beteiligt, die den Zweck haben, auf Entscheidungen staatlicher Stellen Einfluss zu nehmen, auf eine Änderung der staatlichen Politik hinzuwirken oder die öffentliche Meinung zu beeinflussen (§ 2 Abs. 6 des Gesetzes "Über nichtkommerzielle Organisationen").
Das Gesetz sieht ein Verzeichnis jener Organisationen vor, deren Tätigkeit nicht als eine politische eingestuft werden kann. Hierzu zählen unter anderem wissenschaftliche Einrichtungen, Forschungsinstitute, Kulturzentren, Sportvereine, Umweltbewegungen oder Organisationen, die sich für die soziale Absicherung der Bevölkerung oder die Unterstützung von Müttern und Kindern einsetzen. Dennoch sind im Verzeichnis der "ausländischen Agenten" viele Organisationen zu finden, die in eben diesen Bereichen tätig sind.
Das Gesetz sieht darüber hinaus eine Vielzahl neuer Vorschriften und zusätzlicher Anforderungen für "ausländische Agenten" vor. Mit dem Gesetz wurde ein Register für Organisationen eingerichtet, die Funktionen eines "ausländischen Agenten" ausfüllen; in diesem müssen sich die betreffenden Organisationen registrieren lassen. Das Gesetz führt eine jährliche Wirtschaftsprüfung "ausländischer Agenten" ein; darüber hinaus sind die Organisationen verpflichtet, dem Justizministerium spezielle Berichte vorzulegen, unter anderem mit Informationen über ihre Veranstaltungen und Maßnahmen sowie die Zusammensetzung der Leitungsgremien. Diese Informationen müssen halbjährlich im Internet veröffentlicht werden. Die Tätigkeit der betroffenen Organisationen wird durch planmäßige staatsanwaltschaftliche Überprüfungen unter die Lupe genommen (ein Mal jährlich), sowie durch eine unbeschränkte Zahl außerplanmäßiger Überprüfungen, die aufgrund einer Beschwerde irgendeines Bürgers oder einer anonymen Person initiiert werden können. Alle Materialien, die von einem "ausländischen Agenten" erstellt und vertrieben werden, müssen mit einem Hinweis auf den Status "ausländischer Agent" versehen werden, ebenso öffentliche Veranstaltungen der Organisation.
Nach der Unterzeichnung des Gesetzes hatte keine einzige Organisation freiwillig einen Antrag auf Aufnahme in das Register gestellt. 2013 stellte sich heraus, dass das Gesetz nicht funktioniert. Das zog eine Welle staatsanwaltschaftlicher Überprüfungen von NGOs nach sich (diese wurden im Frühling 2013 bei über three hundred Organisationen durchgeführt). Im Juni 2014 dann unterzeichnete Wladimir Putin ein Gesetz, das das Justizministerium dazu berechtigte, Organisationen auch ohne Gerichtsbeschluss in das Register aufzunehmen.
Bürgerrechtlern, die zu diesem Thema arbeiten, wie auch Vertretern der betroffenen NGOs zufolge ist das Gesetz diskriminierend und behindert die professionelle Arbeit. Anfänglich hatte es kein Verfahren für die Streichung einer Organisation aus dem Register gegeben und Organisationen, die einmal dort aufgenommen wurden, sollten dort auch bleiben, selbst dann, wenn der Erhalt ausländischer Gelder und/oder die Ausübung "politischer" Tätigkeit beendet wäre. Erst im Februar 2015 wurde in der Staatsduma ein Verfahren zur Streichung aus dem Register vorgestellt: Den neuen Vorschriften gemäß hat die betreffende NGO hierzu einen speziellen Antrag an das Justizministerium zu stellen. Anschließend führen die Behörden eine außerplanmäßige Überprüfung durch, um festzustellen, ob die NGO tatsächlich ihre Betätigung als "ausländischer Agent" eingestellt hat. Infolge dieser Prüfung kann die Organisation aus dem Register gestrichen werden, irgendwelche Garantien hierfür gibt es allerdings nicht.
Posting Komentar untuk "Analyse: "Ausländischer Agent" | bpb"